Grenzsetzungen und Überwindung von Grenzen in der Flüchtlingsfrage aus poststrukturalistischer Sicht. Das Beispiel Latein-amerikas


Die Frage des Vortrages ist, welche Grenzsetzungen sich in der lateinamerikanischen Migration zeigen und welche Wege es gibt, diese zu überwinden?


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Dabei ist die weitere Frage, ob der poststrukturalistische Ansatz hilfreich sein kann?


Eine Befundaufnahme der lateinamerikanischen Migration zeigt, dass diese ähnliche Merkmale wie diejenige nach Europa, aber auch Unterschiede aufweist. Die lateinamerikanische Migration als Massenerscheinung dauert schon ziemlich lange  und weist  größere Dimensionen als die Migration aus Afrika, dem Balkan und Osteuropa nach Mittel- und Westeuropa nach. Die Migration zwischen den USA und Lateinamerika trägt wie die europäische den Charakter einer Migration an der Scheide zweier Welten, vom globalen Süden in den globalen Norden. Das Entwicklungsgefälle ist die entscheidende Grenze. Dabei stellt die 3000 km lange Grenze zwischen den USA und Mexiko den größten Migrationsstrom der Welt dar.


In einer Studie der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik bei der UNO) von 2014 wird festgestellt, dass zwischen 2005 und 2010 28 Mio. Lateinamerikaner ins Ausland migrierten, davon 23 Mio. in die USA.  Heute leben ca. 12 Mio. Migranten aus Lateinamerika in den USA ohne Papiere. Andere Formen der Migration sind die Binnen- und intrakontinentale Migration in Lateinamerika, die noch größere Ausmaße annimmt als diejenige aus Lateinamerika in die USA. Das Land nach den USA, in das die meisten Flüchtlinge kommen, ist Argentinien. Die Fluchtursachen in Lateinamerika sind die äußerst schlechte Lebenslage großer Teile der Bevölkerung, die keinen Zugang zu Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung und politischer Teilhabe besitzen. Ein Großteil der Bevölkerung ist unterernährt. Ursachen für diese Situation ist die koloniale Ausbeutung, Unterentwicklung, hohe Auslandsverschuldung, die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen und dem internationalen Handel und die neoliberale Auskaufpolitik der lateinamerikanischen Regierungen. Eine weitere Fluchtursache, die heute oftmals die Hauptursache für Flucht darstellt, ist die Gewalt.. Am intensivsten tritt diese Fluchtursache in Mexiko und Zentralamerika in Erscheinung. Parallel zur neoliberalen Entwicklung haben sich Drogenmafia und das organisierte Verbrechen entwickelt, die mit den offiziellen Behörden wie der Polizei und oftmals auch von Regierungs- und Militärmitgliedern und der Justiz eine Liaison eingegangen sind. Dieser Machtklüngel drangsaliert die Bevölkerung, die keinen Schutz mehr vom Staat erwarten kann und der nur noch die Flucht bleibt. Achille Mbeme hat den Begriff der Nekropolitik geprägt, d.h. dass ein wesentlicher  politischer Disziplinierungsfaktor  eine Todespolitik betrieben wird,  an der  sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure beteiligt sind. Sie bestimmen, wer leben darf und wer nicht. Ausdruck dessen sind in Mexiko die vielen Ermordeten im Drogenkrieg und in politischen Auseinandersetzungen, das Verschwindenlassen, willkürliche Festnahmen, Folter und die Femizide. Seit der Ausrufung des Krieges gegen die Drogen in Mexiko 2006 sind bis heute 130 000 Menschen getötet worden und 27.887 Menschen sind verschwunden. Seit 1985 sind 36.000 Frauen ermordet worden. 98 Prozent der Verbrechen werden nicht aufgeklärt, was auf die enge Liaison von Regierung und organisiertem Verbrechen verweist. Ein Beispiel, das weltweit Aufmerksamkeit erregte, ist das Verschwindenlassen von 43 Studierenden des Lehrerseminars in Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero. Der Bürgermeister von Iquala, der Beziehungen zur Drogenmafia hat,  wollte einen politischen Protest der Studierenden verhindern, ließ die Studierenden festnehmen und übergab sie der Drogenmafia. Auch eine Beteiligung von Militärs wurde beobachtet. Seit diesem Ereignis vor zwei Jahren fehlt jede Spur von den Studenten. Trotz weltweitem Protest und der Untersuchung einer internationalen Menschenrechtskommission konnte der Fall bis heute nicht aufgeklärt werden. Die mexikanische Regierung erschwerte die internationalen Untersuchungen, verweigerte den Zugang zum Militär und verlängerte das Mandat der Kommission nicht. Ein Ergebnis der Untersuchungen der Kommission gibt es doch, nämlich, dass die Untersuchung des Falles durch die Regierung äußerst mangelhaft war. Der mexikanische Bischof von Satillo, Raul Vera Lopez sagte: „Abgesehen von Kriegsländern wie Syrien ist Mexiko heute das zerstörteste Land der Welt".

Die gleichen Zustände herrschen in den zentralamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras und El Salvador, trotz der Transformation von grausamen Diktaturen zu sogen. Demokratien. Honduras ist das Land mit der höchsten Mordrate weltweit, Journalisten, Politiker und Juristen werden immer wieder Opfer von Mordanschlägen, wie erst kürzlich der Mord an der Umweltaktivistin  Berta Caceres. Sie kämpfte gegen eines der größten transnationalen Energieprojekte des Landes, das Megastaudamm-Projekt Agua Zarca am Gualcarque-Fluss, durch das tausende Menschen ihr Land verloren, vertrieben und die wertvolle Ökosystem zerstört wurden.

Nach einer Umfrage des Latinobarometros der Universität von Vanderbilt wollten 2014 21,8 aller Lateinamerikaner ihr Land verlassen, Gewalt war immer die erste Begründung. In Honduras waren es 31,8 Prozent der Menschen, die aus dem Land wollten.


Nun möchte ich zum theoretischen Erklärungsansatz der Migration in Lateinamerika kommen. Ein wichtiger Ansatz ist der Poststrukturalismus, der sich über den Begriff der Identität dem Problem der Migration annähert. Die Vertreter des  Poststrukturalismus (z.B. Foucault, Deleuze, Derrida) gehen nicht von festen Identitäten, sondern von mobilen Identitäten aus. Die Identität, die als Zusammenwirken von Innen und Außen definiert werden kann, funktioniert für die Benachteiligten in Lateinamerika unter den Bedingungen der Existenznot und der Gewalt nicht. Auf ihrer Flucht und der Suche nach einer neuen Identität wechseln sie ständig die Orte, stehen wechselnden Herausforderungen gegenüber und treffen auf immer neue MigrantenInnengruppen. So entstehen mobile Identitäten, die für die Migranten eine Überlebenschance darstellen und für die Aufnahmegesellschaften die Aufforderung der Veränderung beinhalten.

Ich möchte nun mit Jacques Derrida weiterarbeiten, insbesondere mit den Begriffen des „Eigenen“, des „Fremden“ und der Figur des „Ankommenden“. Derrida unterschied zwischen zwei Formen des Fremden, die er besonders in seinen Büchern „Von der Gastfreundschaft“ und „Politik der Freundschaft“ herausarbeitete. Zum Einen wird das Fremde als Bedrohung für das Eigene wahrgenommen, was die verheerende Konsequenz von Rassismus, xenophober Einstellungen und Faschismus in sich trägt. Diese Auffassung des Fremden ist vor allem in geschlossenen Gesellschaften vorzufinden, die sich gegenüber dem Fremden abgrenzt. Die Auffassung, dass das Fremde als Herausforderung und Bereicherung begriffen wird, hat  die Konsequenz von Solidarität, Hybridität und Diversität. Diese beiden Verhaltenspole entsprechen den Charakteristika von offenen Gesellschaften, die Grenzen niederreißt und Grenzen gegenüber dem Anderen und dem Fremden öffnet. Die verschiedenen Auffassungen vom Fremden bringt Derrida wiederum mit zwei verschiedenen Formen von Gastfreundschaft zusammen. Er untersucht an den Beispielen von Sokrates, Ödipus und der Geschichte von Loth aus der Bibel, dass Gastfreundschaft ein der menschlichen Gesellschaft inhärente Eigenschaft ist. Er arbeitet wiederum zwei Pole der Gastfreundschaft heraus: die „bedingungslose, absolute Gastfreundschaft“ und die durch die Gesetze „begrenzte bedingte Gastfreundschaft“. Beide Formen bedingen einander, schließen sich aber auch aus. In seinen Büchern wird sichtbar, dass er eine im Kommen befindliche noch nicht gedachte Demokratie erwartet, die sich gegenüber einer  bedingungslosen Gastfreundschaft, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit und Freundschaft verpflichtet fühlt.

Um sich einer Politik der Freundschaft und der „Bedingungslosen Gastfreundschaft“ als Ideal anzunähern, hält es Derrida für unabdingbar, aus der Perspektive des „Fremden“ und des „Ankommenden“ auf das Selbst oder das Eigene zu schauen. Hier ist eine Übereinstimmung mit dem mexikanischen Bischof Raul Vera auszumachen, der sagte: „Jede Lösung der Krise müsse die Perspektive der Migranten selbst berücksichtigen. Dies müsse auch Europa lernen, verstehe der erst seit kurzem von einer großen Flüchtlingsbewegung erfasste Kontinent doch noch herzlich wenig von Migration.“

Den poststrukturalistischen theoretischen Ansatz von mobilen Identitäten, des Umgangs mit dem Fremden und des Phänomens der Gastfreundschaft soll anhand der Migrationspolitik der USA und Mexikos und der Konstruktion alternativer autonomer Räume durch die Migranten selbst überprüft werden. Dabei sollen Schlussfolgerungen für die Frage von Grenzsetzungen und  offenen und geschlossenen Gesellschaften gezogen werden.

Die Migrationspolitik der USA als klassischem Einwanderungsland ist sehr ambivalent. Sie zeigte sich immer als offene als auch geschlossene Gesellschaft, in der die alten Migrationsgruppen Grenzen gegen neue Migranten setzt. Das Gedicht unter der Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt von New York war immer ein Mythos, dessen Realisierung jedoch ausblieb. Dort heißt es:  “Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free” („Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei atmen zu können"). Dieser Aussage zum Trotz prägte Angst gegen Überfremdung und Herabwürdigung bestimmter Ethnien den Widerwillen gegen Migration, der sich schließlich in Gesetzen niederschlug. Auf der Grundlage der Quotenregelung von 1921 wurde im Einwanderungsgesetz von 1924 die Zuwanderungsrate auf 150.000 Personen pro Jahr festgelegt und ein Quotensystem basierend auf der nationalen Herkunft der Einwanderer eingerichtet, das die Zuwanderung aus den nord- und westeuropäischen Staaten förderte und gleichzeitig die Zuwanderung von „unerwünschten Rassen“ aus Ost- und Südeuropa begrenzte.

Somit ist auch die Einwandergesetzgebung der USA gegenüber Lateinamerikanern äußerst widersprüchlich. Einerseits wurde in den USA Arbeitsmigration gefördert, wie z.B. das offizielle Anwerben mexikanischer Arbeitskräfte in den 1960er Jahren. Die Emigration aus Kuba wurde aus politischen Gründen aktiv gefördert. 1966 verabschiedete die US-Regierung den Cuban Adjustment Act« (CAA), der es Kubanern – im Gegensatz zu anderen Lateinamerikanern – erlaubt , auch nach „illegaler“ Einreise das Aufenthaltsrecht auf Lebenszeit in den USA und zahlreiche weitere Privilegien zu erlangen (Hermsdorf 2016). Andrerseits betreiben die USA eine restriktive Migrationspolitik mit Verhaftungen, Strafen und Abschiebungen von lateinamerikanischen Migranten ohne Papiere. Die USA perfektionierten den Grenzzaun an der 3000 km langen Grenze zu Mexiko immer mehr, der illegale Auswanderung verhindern soll. Heute ist der Zaun 1.200 Kilometer lang, 21.000 Grenzschützer patrouillieren am Boden, Hubschrauber und Drohnen kontrollieren aus der Luft (Fritz 2015). Ronald Reagan proklamierte 1985, dass die USA die Kontrolle über ihre Grenzen aufgrund einer „Invasion” von irregulären Einwanderern verloren hätten. Er funktionierte die Frage der Einwanderung in eine Frage der nationalen Sicherheit um (Immigration Reform and Control Act, IRCA von 1986). Nach dem 11. September 2001 fand eine erneute Reformierung der Migrationsgesetzgebung statt. Von nun an wurde der Aufgabenteil der Einwanderung und des Grenzschutzes dem Heimatschutzministerium (Department of Homeland Security, DHS) untergeordnet, das Bundesbehörden, Bundespolizei und Grenzschutz zusammen führte. 2005 beschloss die US-Regierung ein neues Einwanderungsgesetz (Real ID Act of 2005). Fragen der Einwanderung und der inneren Sicherheit wurden im Gesetz, dem Patriot Act  (Provide Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism (PATRIOT) Act) eng miteinander verknüpft, in dem die Abschiebepraxis  ausgeweitet und die Haftbedingungen für Migranten erweitert wurden (Parrott 2007). Die Migrationspolitik Obamas ist ebenso ambivalent wie die seiner vorgänger, und stellt eine Verschränkung von einerseits Abschreckung im Namen der Sicherheitspolitik und andererseits der Förderung von Arbeitsmigration und einer Konsenspolitik gegenüber der lateinamerikanischen Exillobby in den USA dar. So versuchte Obama eine Reform der Flüchtlingspolitik durchzusetzen, die Legalisierung von lange in den USA lebenden und arbeitenden illegalen Migranten, die Familienzusammenführung und eine humane Lösung der Kindermigration zu fördern. Er kam dabei den Interessen der Agrar- und der Wirtschaftslobby im Billiglohnsektor entgegen, die den verheerenden Arbeitskräftemangel im Niedriglohnsektor in den USA durch billige Arbeitsmigranten aus Lateinamerika ausgleichen wollen.  Allerdings scheiterte er an der Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofes in diesem Jahr, der diese Reform ablehnte. Die andere Seite der Migrationspolitik Obamas gegenüber Lateinamerikanern im Bereich der Sicherheitspolitik ist das verschärfte Vorgehen gegen Migranten ohne Papiere, die Verlagerung der Migrationsaußengrenzen der USA nach Süden, nach Mexiko und die zentralamerikanische Staaten, und der Ausbau der Grenzanlagen. Obama ist derjenige Präsident, der mit 2 Mio. die meisten Abschiebungen in einer Amtszeit vollzog. Gegen illegale Migranten ging er besonders restriktiv vor. Mit Mexiko setzte er Vereinbarungen in Gang wie das Programm „Grenze Süd“, in dem Mexiko die Aufgabe des Abfangens von Migranten aus Zentralamerika und der Karibik übertragen wurde. In diesem Rahmen wurde die Grenze zu Guatemala mit US-amerikanischer Hilfe militarisiert und Hotspots eingerichtet. Dass die mexikanischen Behörden sich dabei zunehmend mit dem organisierten Verbrechen und dem Paramilitarismus verbinden, ist kein Hindernis für die Zusammenarbeit mit den USA. Obama baute auch die Grenzanlagen zu Mexiko aus. Zum Repertoire der Migrationspolitik der USA gehört auch die sogen. Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie z.B. in der  „Plan zur Steigerung des Wohlstandes für das Norddreieck“ zwischen den USA und den Nordstaaten Zentralamerikas (Guatemala, El Salvador und Honduras)festgeschrieben wurde, bei dem US-amerikanische  Militärhilfe und Investionen US-amerikanischer Unternehmen im Mittelpunkt stehen, was wiederum die Fluchtursachen reproduziert.

Die Migrationspolitik der USA kann man im Sinne von Derrida einerseits als Politik der bedingten Gastfreundschaft aus Eigennutz und nicht aus dem Blickwinkel des Fremden bezeichnen und andererseits, wenn es um die Abschiebung und Abschreckung gegenüber von illegalen Flüchtlingen geht, als Politik der Abwehr des Fremden. Das Fremde wird im Sinne einer geschlossenen Gesellschaft als Bedrohung empfunden  und der Sicherheitsfrage untergeordnet. Der Druck der republikanischen Politiklobby zu einer Verschiebung der Migrationspolitik in Richtung von Abwehr und Verstärkung der Grenzen gegen Migration führte unter Obama zu einer Zurückdrängung der bedingten Gastfreundschaft und bestärkte damit   Rassismus und xenophoben Einstellungen in der Bevölkerung, wie dies an der breiten Unterstützung des rassistischen Präsidentschaftskandidat der Republikaner Donald Trump sichtbar wurde. Trump erklärte, dass er eine Mauer zwischen Mexiko und den USA bauen wolle, deren Kosten die Mexikaner selbst tragen sollen, dass er alle illegalen Migranten deportieren will und dass die mexikanischen Migranten „Vergewaltiger“ und „Drogenhändler“ seien. In der Unterstützung von Donald Trump durch große Teile der Bevölkerung drückt sich die Angst vor dem Fremden, das als Bedrohung des Eigenen empfunden wird, aus.

Mexiko ordnete sich im Wesentlichen der Migrationspolitik der USA und seiner Rolle als Stellvertreter der USA unter. Einerseits unterstützen alle mexikanischen Regierungen die in den USA lebenden Mexikaner, auch wenn diese keine Papiere haben. Entscheidend dabei sind die sogen. Remesas – Rückführungen, die Gelder, mit denen die in den USA lebenden Mexikaner ihre Familien unterstützen. 2008 waren es 25 Mrd. Us-$, die aus den USA nach Mexiko flossen. Ein großer Teil der Armutsbekämpfung in Mexiko hängt von den Remesas ab, was wiederum durch einen erhöhten Konsum die mexikanische Wirtschaft antreibt. Da auch die US-amerikanische Wirtschaft zu einem großen Teil von den mexikanischen Arbeitskräften abhängt, hat Mexiko einen gewissen Sonderstatus in den USA. Um diesen Sonderstatus aufrecht zu erhalten und auszubauen, kommt Mexiko den USA bei der Migrationsbekämpfung entgegen. Es militarisiert die Grenze zu Guatemala, schiebt Migranten aus Lateinamerika ab, verhaftet Migranten  und richtet Hotspots ein. Bei all dem arbeiten die mexikanischen Behörden mit dem organisierten Verbrechen zusammen, was zu schweren Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Migranten bis hin zu Morden führt. Die vielen Massengräber in Mexiko zeugen von dieser Situation. Mexiko fordert bei den USA Gastfreundschaft ein, weist diese jedoch gegenüber nichtmexikanischen Migranten im eigenen Land zurück und fördert rassistische Haltungen innerhalb der eigenen Bevölkerung, die einen tiefen Hintergrund in der eigenen Kolonialgeschichte haben.

Die restriktive Migrationspolitik der USA und Mexikos und der Nordstaaten Zentralamerikas führte nach neuesten Untersuchungen nicht zum Rückgang der Migration aus Lateinamerika, da die Fluchtursachen sich weiter verschärfen und mit dem Zusammenbruch der neuen Demokratien in Südamerika noch intensivieren werden. Die Ergebnisse liegen vor allem in der Verschlechterung der Menschenrechtslage der Migranten, die nun gefährlichere Wege auf sich nehmen müssen und größeren Risiken ausgesetzt sind. Die Zahl von 70.000 bis 120.000 verschwundener Migranten aus Zentralamerika z.Z. spricht für sich. Außerdem führte die restriktive Migrationspolitik zu einer Militarisierung und Kriminalisierung der Gesellschaften, denn Migration wird ein immer profitableres Geschäft. Da dieses Geschäft illegal ist, hat es ähnliche Strukturen wie das Drogengeschäft und überkreuzt sich mit diesem immer deutlicher. Damit vertiefen sich die Grenzen und Spaltungen in den lateinamerikanischen Gesellschaften.

Die Lösung des Migrationsproblems kann nicht von den USA oder von korrupten lateinamerikanischen Regierungen erwartet werden. Diese Lösungen können nur aus der Mitte der Gesellschaft kommen, aus der Erkenntnis, dass die bisherigen Lösungsmethoden versagt und die Gesellschaften weiter gespalten haben. Die Richtung autonomer alternativer Räume ist ein Anfang, um Grenzen zu überwinden. In Mexiko gibt es eine ausgesprochen große Zahl von gesellschaftlichen Initiativen, die eine andere Kultur des Zusammenlebens praktizieren und Grenzen überwinden. Dazu gehört in Mexiko der Nationale Indigena-Kongress CNI oder die aufständischen Zapatisten (EZLN-Zapatistisches Heer der Nationalen Befreiung). Die von ihnen errichteten alternativen Räume sind durch Solidarität, Basisdemokratie, Selbstbestimmung, Diversität, Hybridität, ein harmonisches Verhältnis zur Natur und Ablehnung von Macht und Gewalt geprägt. Auch viele lateinamerikanischen MigrantInnen errichten solche Räume und transformieren von Opfern zu Aktivisten, die ihr eigenes Schicksal in die Hände nehmen. Sie sind sich bewusst, dass sie ein Recht auf Flucht und Migration haben, wenn ihre Herkunftsstaaten ihr Leben nicht mehr schützen können. Migration wird zu einem eigenen Politikum, die Migranten haben ein Recht auf eine Politik der Freundschaft und auf Gastfreundschaft. Ein Beispiel für diese migrantischen Räume ist die Gruppe „Mütter der verschwundenen Migranten“, die in Mexiko Karawanen durchführen, um ihre verschwundenen Angehörigen zu suchen. Sie arbeiten dabei mit NGOs wie der „mesoamerikanischen Migrantenbewegung“, der UNO und Menschenrechtsorganisationen  zusammen. Während der Karawane leben sie zusammen, entscheiden basisdemokratisch und organisieren selbst ihre Aktiviäten zur Suche der Angehörigen. In Gefängnissen, Hotspots, Checkpoints und auf Ämtern zeigen sie Fotos der Angehörigen und stellen Listen mit deren biografischen Daten aus. Die Gruppe will eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof in Mexiko einbringen.

Auch die Zapatisten setzten sich zu einem großen Teil ursprünglich aus von ihrem Boden vertriebenen Binnenmigranten zusammen, die sich gemeinsam gegen eine ihr feindlich gestimmte Umwelt verteidigen mussten. Sie bestehen aus verschiedenen indigenen Völkern mit unterschiedlichen Namen, Sprachen und Kulturen und entwickelten im Laufe ihres Widerstandes eine Kultur der Transkulturalität und Diversität, die sie bis heute beibehalten haben. Inzwischen haben die zapatistischen widerständischen Gemeinden einen autonomen alternativen Raum errichtet, in dem Basisdemokratie, Kollektivität, Gendergerechtigkeit und Naturschutz oberste Prinzipien sind.

Ähnliche Räume entstanden im Gefolge der Borderline-Culture im Grenzraum zwischen den USA und Mexiko, in dem sich verschiedene Kulturen durchdringen oder  neben einander bestehen und eine eigene Kultur entwickelten, die in der Musik, der Sprache (Spanlish), Literatur und Malerei sichtbar wird. Die Sängerin Lila Downs ist ein Beispiel dafür. In Oaxaca in Mexiko geboren, lebt sie in den USA bei ihrem Vater, besucht aber genauso oft ihre Mutter in Oaxaca. Ihr Liedrepertoire setzt sich aus lateinamerikanischen und nordamerikanischen Liedern zusammen. Politisch gibt es in diesem Raum eigene Verwaltungsaktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen Hilfe. Oftmals agieren die lokalen Gemeinden autonom. Die Bewohner der Grenzregion haben Verwandte auf beiden Seiten oder arbeiten und wohnen in beiden Ländern. Sie fühlen sich der einen und anderen Kultur zugehörig und nicht zugehörig, sprechen Englisch und Spanisch und entwickeln eine eigene von Hybridität geprägte  sogen. Borderline-Culture. Hier wird die Existenz mobiler Identitäten besonders deutlich. Das Fremde wird zum täglich Eigenem, das Fremde gilt als heimisch und man ist stolz darauf.

Aus der eigenen Perspektive der MigrantInnen treten diese für die Bekämpfung der Fluchtursachen und nicht  des militärischen Vorgehens gegen die Flüchtlinge ein. Auch fordern sie ein Recht auf Migration, was das Recht auf Transitrechte und Reisemöglichkeiten beinhaltet. Nur so können Migranten vor gefährlichen Wegen und illegalen Migrationsrouten bewahrt werden.

Alternative autonome Räume hybrider Kulturen mit einem Trend zur unbedingten Gastfreundschaft sind Teil der Gesellschaften geworden. Migration befördert diese Räume. Sie tragen das Potential in sich, geschlossene Gesellschaften aufzubrechen und Grenzen zu überwinden. Zwischen den MigrantInnengruppen existieren transnationale Netzwerke mit NGOs, zivilen Menschenrechtsgruppen und der UNO. In diesen Netzwerken existiert eine bedingungslose Gastfreundschaft. Die genannten Räume verändern die Zielgesellschaften und verursachen Risse in den geschlossenen Grenzen. Die Kultur dieser Räume werden zu Bausteinen, die dem neoliberalen Mainstream entgegengesetzt sind und soziale, ethnische, und kulturelle Spaltungen überwinden helfen. Das Fremde wird als Herausforderung und Bereicherung empfunden. Hier ist der Einbruch des Eigenen in das Fremde und des Fremden in das Eigene zum Alltäglichen geworden.

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