Ich konnte als Mitglied der CCIODH (Internationalen Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte in Mexiko) praktische Erfahrungen mit Fluchtbewegungen und ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung machen. Im Zusammenhang mit der Beobachtung und Begleitung des Konfliktes zwischen der aufständischen zapatistischen Bewegung in Chiapas und der mexikanischen Regierung untersuchte CCIODH auch die Verletzung der Menschenrechte von Migranten im Grenzgebiet zwischen Mexiko und Guatemala (vgl. CCIODH, 2002-
Die Migration in Lateinamerika übersteigt den Umfang der massenhaften Fluchtbewegung nach Europa und erreichte einen längeren Zeitraum. Die Menschen flüchten vor Armut, Arbeitslosigkeit, prekären Lebensverhältnissen und Gewaltkonflikten. Es ist kein Krieg wie in Syrien, dem Irak oder dem Jemen, aber die Gewalt nimmt ähnliche Formen wie Kriege an. Die Zahl der durch Diktaturen und kriminelle Gewalt Ermordeten in Lateinamerika gleicht der Zahl von Kriegsopfern im Nahen Osten und in Afrika oder übersteigt diese sogar.
Lateinamerikanische Migrationsbewegungen
Die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen sind durch unterschiedliche Typen geprägt. Die intrakontinentale Migration zwischen und die Binnenmigration innerhalb der Länder nimmt den Hauptanteil der lateinamerikanischen Migration ein. Besonders die Vertreibung von Indigenen und Kleinbauern von ihren Ländereien infolge von extraktivistischen Projekten von Regierungen und der Nutzung des Territoriums durch transnationale Unternehmen ist ein wesentlicher Grund dafür. Aber auch gewaltsam ausgetragene Konflikte zwischen verschiedenen bewaffneten Kräften, der Drogenmafia, des Militärs, Paramilitärs und Guerillagruppen, bei denen die Bevölkerung zwischen die Fronten gerät, sind Fluchtursachen. In Kolumbien gibt es schon seit Jahrzehnten die Angabe von sechs Millionen Binnenflüchtlingen (vgl. Hauslehner, 2013). Innerhalb Lateinamerikas ist Argentinien nach der Studie der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika bei der UNO) das wichtigste Migrationsland. 2014 kamen 1,5 Millionen Migranten, insbesondere aus Paraguay und Bolivien dorthin. Venezuela nahm 2014 850.000 Flüchtlinge, überwiegend aus Kolumbien, auf (vgl. Buttkereit, 2014).
Die lateinamerikanische Migration, die in die USA verläuft, ist am besten dokumentiert und ähnelt den gegenwärtigen Migrationsbewegung von Afrika, dem Nahen Osten und aus dem Balkan nach Mitteleuropa. Hier spielt das Wirtschafts-
An der Grenze zwischen Mexiko und den USA, die 3000 km lang ist, gibt es den weltweit größten Migrationsstrom. Der Grenzzaun scheint undurchdringlich, doch finden Migranten ohne Papiere immer wieder Wege, dieses Hindernis massenweise zu überwinden. Die CEPAL stellte in einer Studie von 2014 fest, dass zwischen 2005 und 2010 ca. 28,5 Millionen Lateinamerikaner ins Ausland gingen, davon 23 Millionen in die USA, wovon wiederum geschätzte 11 Millionen Migranten ohne Papiere sein sollen (vgl. Polansky, 2016). Man geht davon aus, dass in den USA insgesamt 45 bis 50 Millionen Lateinamerikaner leben und einen großen Teil der US-
Theoretische Analyseansätze
Um das Phänomen der lateinamerikanischen Migration zu analysieren, benutze ich ein Raster verschiedener theoretischer Ansätze. Nützlich erscheint mir das Push-
Push-
Insgesamt gibt es ein breites Ursachengefüge für die lateinamerikanische Migration, die mit dem Kolonialismus beginnt, über die Phase nach der Unabhängigkeitsrevolution nach 1810 mit seiner Abhängigkeit von ausländischem Kapital, dem Weltmarkt und Technologietransfer, mit einem großen Entwicklungsrückstand, weiterbestehen traditionellen Ausbeutungsverhältnissen wie Peonaje (Pächtertum) und Schuldknechtschaft und extremer sozialer Ungleichheit bis zur neoliberalen Wandel verläuft. Lateinamerika war, noch vor den USA, das erste große Experimentierfeld neoliberaler Politiken, die mit der eisernen Hand der sog. Chicago – Boys um Milton Friedman über den Weg blutiger Diktaturen durchgesetzt wurden. Die politische Opposition und nationale Industrien wurden zerschlagen. Für die heutigen Migrationsströme ist entscheidend, dass sie aus denjenigen Ländern kommen, die die zweite Phase des Neoliberalismus durchleben. Im Gegensatz dazu wendeten sich die neuen Demokratien in den Andenländern (Bolivien, Ekuador, Venezuela) und im „Cono Sur“ (Südkegel -
Die zweite Phase des Neoliberalismus in Mexiko und im Norddreieck Zentralamerikas (Guatemala, El Salvador und Honduras) bewirkte eine Verschärfung der sozialen Unterschiede, den Abbau der Mittelschichten, die Zerstörung nationaler Industrien und sie produzierte eine Gruppe von „Überflüssigen“ unter der Bevölkerung, an denen niemand mehr ein Interesse hat. Kennzeichen dieser zweiten Phase ist ein ausgesprochen hohes Maß an Korruption, Gewaltkriminalität, der Anstieg des Drogenhandels und der Bandenkriminalität. Besonders verheerend ist die Verbindung zwischen staatlichen Behörden und dem organisierten Verbrechen, wofür der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe den Begriff „Nekropolitik“ geprägt hat (vgl. Mbembe, 2011). Dabei geht es darum, dass verschiedene, meist kriminelle Akteure zusammen mit dem Staat darüber entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. Die Verbreitung von Tod wird zum politischen Ordnungsfaktor. Die Aufklärung von Verbrechen findet unter diesen Bedingungen praktisch nicht statt, was Straflosigkeit bedeutet. Die rituellen grausamen Frauenmorde -
Mexiko ist eins der wichtigsten Länder des perpetuierten Neoliberalismus, in dem Gewalt endemisch wurde. Besonders deutlich wurde das am Beispiel der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa. Diese Studenten wurden von der örtlichen Polizei mit Wissen der Bundespolizei und des Militärs auf Anweisung des Bürgermeisters an die Drogenmafia übergeben. Seither ist jede Spur von ihnen verschwunden. Bis heute gibt es keine Aufklärung, obwohl sich internationale Organisationen an der Aufklärungsarbeit intensiv beteiligten. Den Organisationen wird jedoch kein Zugang zu Armeekasernen gewährt. Bei der Suche nach den Studenten stieß man auf weitere Massengräber, deren Leichen nie identifiziert wurden (Zimmering, 2015). Bei den letzten Kommunalwahlen in Mexiko Mitte 2015 wurden 19 Kandidaten der unterschiedlichsten Parteien ermordet. Seit 2006 bis heute gibt es in Mexiko 130.000 Tote und 26.000 Verschwundene (vgl. Amnesty International, 2016). Diese Zahlen gleichen den Opfern von Kriegen, wie dies der Hochkommissar für Menschenrechte Zeid Rada al Hussein der UNO ausdrückte (Hillebrand, 2015). Dass eine erhebliche Zahl der Lateinamerikaner ihr Land verlassen möchte, ist demnach sehr verständlich. Eine Umfragen des Barómetro de las Americas ergab, dass 21,8 Prozent der Lateinamerikaner ins Ausland gehen wollen, wobei die armen und von Gewalt und Neoliberalismus geprägten Länder an vorderster Stelle stehen (Universität von Vanderbilt, 2014).
Ein besonderes Phänomen sind die Kinderflüchtlinge. Aus Guatemala, El Salvador, Honduras und Mexiko migrieren seit Mitte der 2000er Jahre zehntausende Kinder ohne Eltern und begeben sich auf den gefährlichen Weg in die USA. Die Kinder flüchten vor zu schwerer Arbeit, vor Unterernährung, häuslicher und krimineller Gewalt, Prostitution und Zwangsrekrutierungen krimineller Banden. Vom 1. Oktober bis 30. November 2015, in nur zwei Monaten, sind 10.588 lateinamerikanische Kinderflüchtlinge an der Grenze zu den USA festgenommen worden (Acnur.org, 2014). Die Flüchtlinge weisen ein Alter von vier bis 17 Jahren auf. Oft sind sie auf der Suche nach ihren Eltern, die sich irgendwann auf die Reise in die USA begaben, um Arbeit zu finden und ihre Familien versorgen zu können. Sie versprachen, die Kinder nachzuholen oder zurück zu kommen. Doch das war überwiegend eine Illusion, denn auch eine Rückreise ist kostspielig und gefährlich, die Kinder nachzuholen ebenso. Eine Form von Gewalt, die den Kindern besonders zu schaffen macht, sind die Maras. Das sind Jugendbanden, insbesondere in El Salvador, Guatemala, Honduras und Südmexiko, die sich durch besondere Brutalität auszeichnen und ihren Unterhalt durch Drogen-
Migrationspolitiken als wesentlicher Pull-
Nun widme ich mich der Migrationspolitik, wobei diese von den USA als Zielland in Lateinamerika dominiert wird. Die Migrationspolitik der USA als Einwanderungsland war schon immer sehr widersprüchlich. Sie bewegt sich zwischen der Förderung und der Abwehr von Migration (vgl. Parrott, 2007). Gefördert wird Migration besonders im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Arbeitskräften und Familienzusammenführung, zurückgewiesen in Verbindung mit der Missachtung und Herabwürdigung bestimmter Ethnien und dem Sicherheitsdenken. Einmal sind Migranten, bes. hochqualifizierte, willkommen, zum anderen werden Migranten als Gefahr von Überfremdung betrachtet. Donald Trump bezeichnete die „illegalen“ Migranten als „Verbrecher“ und „Vergewaltiger“ und betrachtet sie als Gefahr für die nationale Sicherheit (vgl. Kilian, 2016). Er befindet sich damit in einer Kontinuitätslinie mit Ronald Reagan, der 1985 sagte: „Die USA haben die Kontrolle über ihre Grenzen aufgrund der Invasion von irregulären Einwanderern verloren“ und somit Migration der Sicherheitsfrage unterordnete. Nach dem 11.September 2001 verschärfte sich die Migrationspolitik der USA weiter. Migration wurde nunmehr unter dem Aspekt der Terrorismusbekämpfung betrachtet. Folge davon war das Einwanderungsgesetz von 2005, das Asylverfahren erschwert, harte Strafen für „illegale“ Flüchtlinge anordnet und die Hilfe für „illegale“ Flüchtlinge unter Strafe stellt, auch wenn es Familienangehörige betrifft. Dieses Gesetz gilt bis heute und wird durch einzelne Entscheidungen in den verschiedenen Staaten noch verschärft.
Obama setzte die restriktive und widersprüchliche Flüchtlingspolitik fort, die sich zwischen den Polen der Abschottung und Abschreckung einerseits und der Konsenspolitik gegenüber der lateinamerikanischen Lobby und den Interessen bestimmter Wirtschaftsgruppen, bes. im Agrar-
In den letzten zwei Jahrzehnten verfolgten die USA die Strategie, neue Grenzregime zu entwickeln, die die Grenzen für Migranten nach Süden verlagern und militarisieren sollen. Hierbei spielt die Grenze zwischen Mexiko und Guatemala eine besondere Rolle, da dort einerseits große Migrationsströme aus Zentralamerika verlaufen und andrerseits aufständische Bewegungen wie die Zapatisten existieren, die militärisch unter dem Vorwand der Grenzsicherung bekämpft werden. Das mexikanische Militär spielt dabei die Rolle eines Stellvertreters. Viele mexikanischen Militärs werden in den USA oder in Mexiko von US-
Außerdem geben die USA vor, Fluchtursachen in Mexiko und Zentralamerika bekämpfen zu wollen. Ein Beispiel dafür ist die PAP (Allianz zur Steigerung des Wohlstandes für das Norddreieck) zwischen den USA, Guatemala, El Salvador und Honduras (vgl. Plate, 2015). Neben effektiven Grenzregimen, sollen Verbrechensbekämpfung, der Ausbau der Wirtschaft und der verbesserte Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung für die Bevölkerung realisiert werden. Die acht Milliarden US-
Wie reagierte nun Mexiko auf die Migrationspolitik der USA? Auf der einen Seite hat der Schutz der eigenen mexikanischen Migranten in den USA oberste Priorität. Seit 1850 wanderten zwölf Millionen Mexikaner legal in die USA aus (vgl. Mrochen, 2015). Außerdem existieren zahlreiche familiäre Verbindungen zwischen den USA und Mexiko, denn erst 1848 verlor Mexiko die Hälfte seines Territoriums an die USA. Für Mexiko stellen die Rücküberweisungen der mexikanischen Migranten (Remesas) von jährlich ca. zwölf Mrd. US-
Welche Ergebnisse brachte nun die Abkoppelungs-
Es gibt auch einen anderen Effekt der Verschärfung der Migrationspolitik der USA und Mexikos, der für Europa ein wichtiges Beispiel darstellt. Die Migranten leisten Widerstand. Sie treten aus ihrem Opfer-
Theoretische Schlussfolgerungen und Versuch eines Fazits
Welche theoretischen Schlussfolgerungen kann man aus der lateinamerikanischen Migration ziehen? Legt man das Push-
Das Fazit ist, dass wir uns klar werden müssen, dass wir im Jahrhundert der Migration leben, das eine logische Folge der neoliberalen Globalisierung mit seinen Umweltzerstörungen, der Ausbreitung von Armut und Gewalt und des Machtzuwachses der großen transnationalen Unternehmen ist. Am lateinamerikanischen Beispiel wird deutlich, dass Abschottung und Abschreckung die Migrationskrise nicht lösen kann. Die Bekämpfung der Fluchtursachen ist unter neoliberalen Verhältnissen nicht möglich. Die logische Schlussfolgerung ist, dass es tiefgreifende Änderungen in der Ausrichtung und der Strukturen der Gesellschaften selbst und der Weltgesellschaft mit veränderten Umverteilungs-
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Migration in Lateinamerika, Ursachen und Auswirkungen
In Lateinamerika existieren schon seit langem Flüchtlingsströme, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu denen aus Afrika, dem Nahen Osten und dem Balkan nach West-